FAZ 23. Juni 2001
Präsident Bush hat recht, wenn er das Protokoll als unausgewogen bezeichnet
Von Klaus Natorp
Immer wenn Präsident Bush erläutern muß, warum er das Kyoto-Protokoll für obsolet erklärt hat, nennt er als einen Hauptgrund für seine ablehnende Haltung, daß die Entwicklungsländer nicht einbezogen worden seien in das Programm zur Reduzierung des Ausstoßes von Treibhausgasen in die Atmosphäre, die nach Ansicht vieler Wissenschaftler zu steigenden Durchschnittstemperaturen auf der Erde führen. Bush ist deswegen heftig kritisiert worden. Nicht die Länder der Dritten Welt seien die Hauptschuldigen an der zunehmenden Erwärmung der Erdatmosphäre, sagen die Kritiker, sondern die Industriestaaten mit ihrem enormen Energieverbrauch und den damit verbundenen Emissionen gewaltiger Abgasmengen. Auf der anderen Seite gibt es allerdings Wissenschaftler, die den sogenannten Treibhauseffekt vor allem auf nicht menschengemachte Faktoren zurückführen, zum Beispiel auf die Zyklen der Sonnenaktivität. Doch selbst wenn man diese Meinung nicht teilt: Ist es nicht tatsächlich abwegig, die Entwicklungsländer vorerst von der Verpflichtung auszunehmen, auch bei sich die Menge der die Atmosphäre vermutlich aufheizenden Treibhausgase zu reduzieren?

Viele von denen, die Bush jetzt so vehement attackieren, haben offensichtlich keine Ahnung davon, wie es in großen Teilen der Dritten Welt zugeht, was Luftverschmutzung, Gewässerverunreinigung, Entwaldung, Bodenzerstörung und viele andere Sünden wider die Umwelt angeht. In fast allen Entwicklungsländern wird die Umwelt mindestens ebenso rücksichtslos behandelt wie in den meisten Industriestaaten, vielfach sogar brutaler. Das kann man den Entwicklungsländern nicht vorwerfen. Es bleibt ihnen oft keine andere Wahl, als sich so zu verhalten. Wenn es ums nackte Überleben geht, sind die Folgen für die Umwelt in den Augen der Notleidenden zunächst nebensächlich. Hauptsache, der Schornstein raucht, selbst wenn dabei noch so große Mengen schädlicher Gase in die Luft gepustet werden. Und wie die Schornsteine oft qualmen! Das muß man gesehen haben, bevor man Bush dafür verdammt, daß er es wagt, darauf hinzuweisen, das Kyoto-Protokoll sei wegen der Nichteinbeziehung der Entwicklungsländer unausgewogen. Aber in der westlichen Welt, entgegnen die Kritiker, sei die Menge des dort produzierten Kohlendioxyds doch viel größer als in der Dritten Welt. Stimmt wahrscheinlich. Doch nicht immer ist die Quantität der in die Atmosphäre gelangenden Gase ein schlagendes Argument. Könnte nicht auch die Qualität der Emissionen eine Rolle spielen bei der sich möglicherweise anbahnenden Klimaveränderung?

Natürlich ist die Zahl der Kraftfahrzeuge pro Kopf der Bevölkerung in China und Indien noch längst nicht so groß wie in den Vereinigten Staaten oder in einem der anderen hochindustrialisierten westlichen Länder. Aber ein uraltes, selten oder noch nie gewartetes Kraftfahrzeug ohne Katalysator in Asien, Afrika oder Lateinamerika stößt mindestens zehnmal soviel Schadstoffe aus wie ein normales Automobil im Westen. Aus Millionen von schlecht eingestellten Dieselmotoren in Lastwagen und Bussen in der Dritten Welt entweichen den Auspuffrohren täglich Unmengen dicker, kohlrabenschwarzer Wolken, und das beileibe nicht nur beim Anfahren. Hinzu kommt die unübersehbare Zahl von Zweirädern mit ihren stinkenden Zweitaktmotoren. Wie ist das zu bewerten? Und wie wirken sich die unzähligen kleinen oder großen offenen Feuer aus? Die Masse der Bevölkerung in Asien, Afrika und Lateinamerika bereitet ihr Essen Tag für Tag auf offenem Feuer zu. Dadurch trägt sie nicht nur zur Abholzung der letzten Bäume und Sträucher in ihren Ländern und damit zur Verkarstung ganzer Landstriche bei, sondern entläßt auch Abgase in die Luft, die im ganzen gesehen schon ins Gewicht fallen dürften, auch wenn manche Bush-Kritiker in den westlichen Wohlstandsgesellschaften geneigt sind, das tägliche Feuermachen in der Dritten Welt zu ignorieren oder gering zu schätzen.

In manchen Kohlerevieren Chinas und Indiens gibt es seit Jahren ausgedehnte Schwelbrände, die nicht gelöscht werden können, aber ständig gewaltige Mengen von Kohlendioxyd in die Luft befördern, die niemand je gemessen hat und die auch wahrscheinlich nicht zu erfassen sind, aber mit Sicherheit auch ihren Teil zur Erwärmung der Erdatmosphäre beitragen. Doch es geht gar nicht nur ums Kohlendioxyd. Da ist zum Beispiel das Methan, das wahrscheinlich gleichfalls erheblich die Durchschnittstemperaturen auf der Erde beeinflußt. Wo aber wird das meiste Methan produziert? In den Entwicklungsländern, vor allem in Indien, dem Land der "heiligen Kühe", die, wie alles Rindvieh auf der Erde, über ihren Verdauungsapparat eine Menge Methan ausscheiden. Fachleute sprechen deshalb mit einer ordinären Vokabel "scherzhaft" von der "Kuhfurz-Theorie", obwohl das Thema für Witze dieser Art eigentlich zu ernst ist. Der Methan-Faktor fällt deshalb immer stärker ins Gewicht, weil mit der wachsenden Weltbevölkerung auch der Viehbestand auf der Erde gewaltig gewachsen ist. Methan entsteht schließlich auch bei der in Asien weitverbreiteten Anbauweise für Naßreis. Auch hier nimmt die Methanmenge mit der Ausdehnung der Anbauflächen kontinuierlich zu. Mehr Reisanbau ist jedoch unerläßlich, will man die ständig wachsende Bevölkerung in Asien ausreichend ernähren. Mittels Gentechnik versucht das Internationale Reisforschungsinstitut auf den Philippinen Sorten zu züchten, die weniger Methan als bisher produzieren. Gentechnik wird aber von denselben Leuten, die Bush wegen seiner Ablehnung des Kyoto-Protokolls kritisieren, gleichfalls verdammt.

Schon die wenigen hier aufgeführten Beispiele zeigen, daß Präsident Bush recht hat, wenn er bemängelt, daß die Entwicklungsländer in das Kyoto-Protokoll seinerzeit nicht mit einbezogen wurden. Zwar müssen die Industriestaaten mit gutem Beispiel vorangehen und ihre die Erdatmosphäre aufheizenden Emissionen als erste reduzieren, schon weil es ihnen leichter fallen sollte als den Ländern der Dritten Welt, deren Mittel begrenzt sind und die zunächst die Grundbedürfnisse ihrer Bevölkerungen befriedigen müssen, bevor sie an solchen "Luxus" wie Abgasfilter für Fabrikschlote, Katalysatoren für alle Kraftfahrzeuge oder umfangreiche Wiederaufforstungen und einen praktikablen Ersatz für die vielen offenen Koch-Feuer in ihren Ländern denken können. Andererseits würden es die Industriestaaten allein auch nicht schaffen, die Erdatmosphäre vor einer weiteren Erwärmung zu bewahren. Manche aus dem Kreis der ÖkoFanatiker geben sich da, falls sie das tatsächlich annehmen sollten, falschen Hoffnungen hin. Wenn das Schlagwort von der "einen Welt" richtig ist, woran wohl kaum noch jemand zweifelt, sind Verpflichtungen zu Abgasreduzierungen nur für einen Teil dieser Welt tatsächlich wenig erfolgversprechend.

Darauf hinzuweisen muß erlaubt sein, auch wenn der amerikanische Präsident sich dabei vielleicht ein wenig undiplomatisch ausgedrückt hat. Inzwischen hat ein von Bush bestelltes Gutachten der amerikanischen Nationalen Akademie der Wissenschaften ergeben, daß ein Zusammenhang zwischen der steigenden mittleren Lufttemperatur und einem Wachsen des Kohlendioxyd-Anteils an der Erdatmosphäre "sehr wahrscheinlich" sei. Trotzdem besteht zwischen dieser Annahme und der Gewißheit, daß es tatsächlich so ist, immer noch ein großer Abstand. Es könnte daher nicht schaden, wenn über das Thema noch einmal ganz von vorn diskutiert und dabei kein Teil der Erde ausgespart würde. Womöglich wird man Bush noch einmal dankbar sein dafür, daß er mit seiner Ablehnung des Kyoto-Protokolls den Anstoß zu einer solchen Debatte gegeben hat.