OVG RHEINLAND-PFALZ
Beschluss vom 10.09.1999
 AZ: 8 B 11689/99.OVG
LBauO, § 8 Abs. 8 S. 1


Windenergieanlagen, Windkraftanlagen, Abstandsfläche
L e i t s a t z
Zur Ermittlung der Abstandsfläche bei Windenergieanlagen

 

8 B 11689/99.OVG
4 L 1409/99.NW

In dem Verwaltungsrechtsstreit

hat der 8. Senat des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfaz in Koblenz aufgrund der Beratung vom 10. September 1999, an der teilgenommen haben

beschlossen:

Unter Abänderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Neustadt an der Weinstraße vom 26. Juli 1999 wird die Vollziehung der für die Windenergieanlagen 1 und 3 erteilten Baugenehmigung vom 12. April 1999 hinsichtlich der Nutzung der Anlagen mit folgender Maßgabe ausgesetzt:

Die Rotoren dürfen bei der horizontalen Drehung um die Achse der Masten nur so weit ausschwenken, dass von der Spitze der Rotorflügel - projiziert auf die Erdoberfläche - bis zu der Mitte der zwischen den Baugrundstücken und den Grundstücken des Antragstellers (Parzelle Nr. 1622 und Parzelle Nr. 1788) gelegenen Wege ein Abstand von 26,34 m gewahrt ist.

Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Von den Kosten des Verfahrens hat der Antragsteller 2/3 der Gerichtskosten sowie jeweils 2/3 der außergerichtlichen Kosten des Antragsgegners und der Beigeladenen zu tragen; der Antragsgegner und die Beigeladene haben jeweils 1/6 der Gerichtskosten sowie 1/6 der außergerichtlichen Kosten des Antragstellers und im Übrigen die ihnen verbleibenden außergerichtlichen Kosten selbst zu tragen.

Der Wert des Streitgegenstandes wird zugleich für das Verfahren erster Instanz auf 15.000,- DM festgesetzt.
 
 
G r ü n d e

Die von dem Senat zugelassene Beschwerde ist nur teilweise begründet.

Hinsichtlich der durch den Bauschein vom 12. April 1999 genehmigten Windenergieanlage 2 fehlt dem Antragsteller bereits das erforderliche Rechtsschutzinteresse, da nicht ersichtlich ist, dass von dieser Genehmigung (überhaupt, schon gar nicht alsbald) Gebrauch gemacht werden soll. Im Gegenteil hat die Beigeladene inzwischen bereits einen Bauantrag für einen Alternativstandort eingereicht.

Hinsichtlich der Baugenehmigung für die Windenergieanlagen 1 und 3 ergibt die von dem Senat gemäß § 80 a Abs. 3 i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO vorgenommene Abwägung der gegenseitigen Interessen der Beteiligten, dass dem Suspensivinteresse des Antragstellers nur hinsichtlich eines Teilbereichs der Nutzung der Anlagen der Vorrang zukommt.

Die Baugenehmigung beinhaltet die Erlaubnis sowohl zur Errichtung als auch zur Nutzung der Windenergieanlagen. Nach dem Ergebnis der im Eilverfahren allein möglichen summarischen Prüfung wird der Antragsteller durch die Errichtung der beiden Anlagen und deren Betrieb im Allgemeinen nicht in seinen Rechten verletzt. Lediglich dann, wenn die Rotoren bei ihrer - nach der jeweiligen Windrichtung ausgerichteten - Drehung um die Achse der Masten zu stark nach Süden ausschwenken, kommt eine Verletzung des Anspruchs des Antragstellers auf Beachtung des Abstandsflächenrechts in Betracht. Der Senat hat sich bei der getroffenen Zwischenregelung an dem ermittelten Umfang der möglichen subjektiven Rechtsposition des Antragstellers orientiert. Ob ein Gebrauchmachen von der Baugenehmigung trotz der im Tenor angeordneten Einschränkung wirtschaftlich sinnvoll ist, bleibt der Entscheidung der Beigeladenen vorbehalten.

Wegen der von dem Antragsteller in erster Linie geltend gemachten Beeinträchtigung für sein Hof- und Wohnhausgrundstück ist eine Rechtsverletzung nicht ersichtlich. Das Verwaltungsgericht hat ausführlich dargelegt, dass keine Anhaltspunkte für eine Verletzung des insofern allein in Betracht kommenden Anspruchs auf Beachtung des Rücksichtnahmegebots vorliegen. Es hat sich dabei zu Recht auf das schalltechnische Gutachten der Firma ... GmbH vom 4. Februar 1999 gestützt, das zu den mit Bauschein vom 12. April 1999 genehmigten Windenergieanlagen mit einer Nabenhöhe von 91 m erstellt und auch von dem staatlichen Gewerbe-aufsichtsamt in N... in dessen Stellungnahme vom 25. Februar 1999 akzeptiert worden ist. Das Verwaltungsgericht hat im Einzelnen ausgeführt, dass die Gutachter ihrer Lärmprognose konservative, d.h. für die Ortslage O... ungünstige, Annahmen zugrunde gelegt haben (etwa: emissionsrelevante Schallleistungspegel von 104,3 dB(A), die zugleich die Maximalpegel der Windenergieanlagen darstellen - vgl. Gutachten, S. 4 -, hohe Windgeschwindigkeit, ungünstige Windrichtung, Zuschlag von 3 dB(A)). Es hat auch das von dem Antragsteller zu beanspruchende Schutzniveau zutreffend mit 45 dB(A) nachts (Immissionsrichtwert für ein Dorfgebiet) angegeben, so dass die Lärmprognose bei dem für die G...straße ermittelten Beurteilungspegel von 39 dB(A) für den Antragsteller "auf der sicheren Seite!" ist. Wegen der weiteren Einzelheiten kann entsprechend § 117 Abs. 5 VwGO auf die zutreffenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts (S. 7 - 10 des Beschlusses) verwiesen werden.

Soweit der Antragsteller darüber hinaus auch eine Beeinträchtigung in der Nutzung seiner landwirtschaftlichen Parzellen Nrn. 1622 und 1788 geltend macht, spricht nach dem Ergebnis der summarischen Prüfung mehr für eine Verletzung seines Anspruchs auf Beachtung des Abstandsflächenrechts. Der hier maßgebliche § 8 Abs. 8 i.V.m. Abs. 10 LBauO i.d.F. des Gesetzes vom 24. November 1998 (GVBl S. 365) hat nachbarschützende Funktion. Nach dem Wortlaut der Bestimmung hängt der Anspruch auf Beachtung dieser Vorschrift nicht von einer mehr oder weniger starken tatsächlichen Beeinträchtigung ab (vgl. zum Abstandsflächenrecht allgemein: OVG NW, Urteil vom 5. Februar 1996, UPR 1996, 276, 277; OVG Saarland, Urteil vom 6. März 1987, BRS 47 Nr. 100). Bislang ist nichts dafür ersichtlich, dass das Geltendmachen dieser Rechtsposition eine unzulässige Rechtsausübung darstellt.

Windenergieanlagen sind bauliche Anlagen, von denen Wirkungen wie von oberirdischen Gebäuden ausgehen. Dies wird von der Landesbauordnung unterstellt, was sich letztlich aus der Spezialregelung in § 8 Abs. 10 Satz 2 LBauO ergibt (vgl. im Übrigen: OVG NW, Urteil vom 29. August 1997, NVwZ 1998, 978, 979; Gemeinsames Rundschreiben des Ministeriums der Finanzen, des Ministeriums des Innern und für Sport, des Ministeriums für Wirtschaft, Verkehr, Landwirtschaft und Weinbau und des Ministeriums für Umwelt und Forsten, Hinweise zur Beurteilung der Zulässigkeit von Windenergieanlagen, vom 18. Februar 1999 - MBl. S. 148, im Folgenden: WEA-Hinweise, Abschnitt IV Nr. 2.2). Für solche bauliche Anlagen gelten gemäß § 8 Abs. 8 Satz 1 LBauO die Absätze 1 - 7 gegenüber Gebäuden und Grundstücksgrenzen entsprechend. Einer entsprechenden Anwendung bedarf es einmal für die Ermittlung der Wandhöhe H, zum anderen für die Lage der Abstandsfläche auf der Erdoberfläche. In beiderlei Hinsicht ist zu entscheiden, wie der von den Rotorbewegungen - vertikal um die eigene Achse und horizontal um die Achse des Mastes - gebildete Raum zu bewerten ist.

Was die Höhe H der Windenergieanlagen anbelangt, herrscht Einigkeit, dass die von dem Rotor vertikal bestrichene Fläche in vollem Umfang zu berücksichtigen ist. Unterschiedliche Auffassungen bestehen nur darin, ob als Höhe H von dem Scheitelpunkt des von dem Rotor beschriebenen Kreises auszugehen ist (so: WEA-Hinweise IV.2.2; Jeromin, LBauO 1999 - Kommentar, § 8 Rdnr. 145 mit Abbildung 59) oder ob die Berechnung von H in Anlehnung an die Sonderregelungen für Giebelflächen in § 8 Abs. 4 Sätze 3 - 6 LBauO zu erfolgen hat (so: Stich/Gabelmann/Porger, LBauO-Kommentar, Stand April 1999, § 8 Rdnr. 121: H = Masthöhe + (0,4637 x Rotorradius)). Der Senat neigt zu der Auffassung, dass die zuletzt genannte Berechnungsmethode dem Entsprechungsgebot gemäß § 8 Abs. 8 Satz 1 LBauO eher gerecht wird. Dies ergibt hier eine Höhe H von 105,37 m (91 m + 0,4637 x 31 m). Unter Inanspruchnahme der Vergünstigung gemäß § 8 Abs. 10 Satz 2 LBauO, deren Voraussetzungen hier ersichtlich vorliegen, errechnet sich daraus eine Abstandsfläche von 26,34 m.

Hinsichtlich der Lage der Abstandsfläche auf der Erdoberfläche liegt es nach der oben dargestellten Methode zur Ermittlung der Höhe H nahe, die von dem Rotor - je nach der Windrichtung - horizontal bestrichene Fläche ebenfalls in vollem Umfang zu berücksichtigen. Der von dem Rotor durch seine horizontale und vertikale Drehung gebildete Raum entspricht dann einem gegenüber dem Mast vortretenden Bauteil. Gemäß § 8 Abs. 1 Satz 1 LBauO beginnt die Abstandsfläche am Fuß der Außenwand. Nach § 8 Abs. 5 Satz 1 LBauO sind die Abstandsflächen für vortretende Wandteile gesondert zu ermitteln; unberücksichtigt bleiben lediglich untergeordnete Vorbauten, die nicht mehr als 1,50 m vortreten (§ 8 Abs. 5 Satz 2 LBauO). Wegen der Dauerhaftigkeit der Rotorbewegungen kann das Ausschwenken aus der Senkrechten des Mastes entgegen der Auffassung der Beigeladenen auch nicht mit den Drehbewegungen beweglicher Bauteile wie Garagentore oder Fensterflügel verglichen und deshalb auch nicht als unerheblich angesehen werden. Da in den Absätzen 1 - 7 des § 8 LBauO ansonsten keine einschlägigen Bestimmungen enthalten sind, dürfte es für die von § 8 Abs. 8 Satz 1 LBauO geforderte entsprechende Anwendung bei der Grundregel verbleiben, dass die Abstandsfläche an dem am weitesten vortretenden Teil der baulichen Anlage beginnt, hier also an dem Rand des durch die Projektion der Kugelform auf die Geländeoberfläche gebildeten Kreises (so: WEA-Hinweise IV.2.2; Stich/Gabelmann/Porger, aaO, Rdnr. 122; auch: OVG NW, aaO, S. 980 zur früheren Rechtslage in NRW).

Der Beigeladenen ist zuzugeben, dass die durch die Rotorbewegungen gebildete Kugelform ein vorgestellter und kein vollkommen massiver Gebäudeteil ist. In der jeweiligen Rotationsebene handelt es sich jedoch sehr wohl um eine massive bauliche Anlage. Dieser Umstand würde vernachlässigt, wenn man die Abstandsfläche am Fuß des Mastes beginnen ließe.

Des Weiteren spricht ein gesetzessystematisches Argument für die Auffassung, die Abstandsfläche am Rand des auf die Geländeoberfläche projizierten Kreises dieser Kugelform beginnen zu lassen. Denn nur bei dieser Auffassung lässt sich die Vergünstigung für Windenergieanlagen in § 8 Abs. 10 Satz 2 LBauO erklären. Würde die Abstandsfläche bereits am Mast beginnen (so wohl: Jeromin, aaO, Rdnr. 145 mit Abbildung 60), ist kein Grund dafür ersichtlich, wieso Windenergieanlagen gegenüber anderen Masten oder Türmen so deutlich privilegiert werden. Dies würde etwa bei einer Windenergieanlage wie der im Bauschein vom 12. April 1999 genehmigten bedeuten, dass die Rotorblätter mit ihrem Radius von 31 m über die Abstandsfläche hinausragten. All dies spricht für die in den WEA-Hinweisen vertretene Auslegung der gesetzlichen Regelung über die Lage der Abstandsfläche bei Windenergieanlagen.

Das Verfahren in der Hauptsache wird Gelegenheit geben, dem von der Beigeladenen hierzu geäußerten Bedenken nachzugehen; im Rahmen dieses Hauptsacheverfahrens kann dann gegebenenfalls auch eine - von der Beigeladenen bereits jetzt im Eilverfahren beantragte - Stellungnahme des zuständigen Ministeriums eingeholt werden, die sich dann vergleichend auch zu der Rechtslage etwa in Nordrhein-Westfalen (Abstandsfläche ab Mast, allerdings 0,5 H) verhalten mag. Soweit die Beigeladene vorträgt, wegen der im Durchschnitt geringen Grundstücksgrößen in Rheinland-Pfalz müsse die Abstandsfläche zwingend am Mast beginnen, wolle man nicht die Privilegierung der Windenergieanlagen ungerechtfertigt stark einschränken, erscheint dies angesichts des oben dargelegten systematischen Zusammenhangs der gesetzlichen Regelung wenig überzeugend. Vielmehr hätte es dann nahegelegen, eine etwa der nordrhein-westfälischen Rechtslage entsprechende eindeutige Regelung vorzusehen (§ 6 Abs. 10 Satz 5 BauONW i.d.F. des Gesetzes vom 24. Oktober 1998, GVBl NW S. 687 - lautet: "Die Abstandsfläche ist ein Kreis um die geometrische Mitte des Mastes.").

Obwohl demnach Einiges dafür spricht, dass die Windenergieanlagen 1 und 3 die Abstandsfläche in Richtung der Grundstücke des Antragstellers nicht einhalten und der Antragsteller insofern in seinen Rechten verletzt ist, hat der Senat die Vollziehung der angefochtenen Baugenehmigung dennoch nicht in vollem Umfang ausgesetzt. Ausschlaggebend hierfür war die Erkenntnis, dass die notwendige Abstandsfläche nur bei einer Horizontaldrehung der Rotoren um vollständige 360 Grad nicht eingehalten wird. Der Senat geht davon aus, dass es technisch möglich ist, die horizontale Drehbewegung um die Achse des Mastes so einzuschränken, dass die im Tenor formulierte Auflage eingehalten wird. Entsprechend könnte die Baugenehmigung im Rahmen des noch anhängigen Widerspruchsverfahrens ergänzt werden. Diese Einschränkung dürfte nicht so gravierend sein. Denn nach den genehmigten Bauunterlagen liegt der Mast 50 m von der Wegeparzelle entfernt; im Rahmen der vorläufigen Regelung wird davon ausgegangen, dass deren halbe Breite von der Abstandsfläche in Anspruch genommen werden darf (§ 8 Abs. 2 Satz 2 LBauO).

Der Senat hält es für interessengerecht, den Vollzug der Baugenehmigung nur entsprechend dem Umfang der dem Antragsteller aller Voraussicht nach zustehenden Rechtsposition auszusetzen. Die Beigeladene wird zu prüfen haben, ob das Gebrauchmachen von der so eingeschränkten Baugenehmigung für sie wirtschaftlich sinnvoll ist. Zudem wird das anhängige Widerspruchsverfahren Gelegenheit geben, nach Lösungsmöglichkeiten für das durch den Baubeginn vor Eintritt der Bestandskraft der Baugenehmigung entstandene Problem zu suchen; zu denken wäre etwa an die Übernahme einer Abstandsflächenbaulast auf dem Grundstück des Antragstellers, um eine vollständige horizontale Drehung Rotoren um 360 Grad zu ermöglichen.

Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 154 Abs. 1 und Abs. 3, 155 Abs. 1, 162 Abs. 3 VwGO.

Die Festsetzung des Streitwertes zugleich für das Verfahren erster Instanz beruht auf den §§ 13 Abs. 1, 20 Abs. 3, 25 Abs. 2 Satz 2 GKG, wobei der Senat berücksichtigt hat, dass der Antragsteller gegen drei bauliche Anlagen vorgeht und die Beeinträchtigung dreier Grundstücke rügt.

 gez. Spelberg gez. Dr. Held gez. Schauß