Sächsische Zeitung, 24.08.02

Die Seitensprünge des Himmels

Auch vor 75 Jahren tobten zerstörerische Wassermassen
und auch damals folgte eine Klimadiskussion.


Wilhelm Gerntrup

Das Jahrhunderthochwasser entlang der Elbe ruft Erinnerungen an frühere Flutkatastrophen in der Region wach: Vor 75 Jahren, im Juli 1927, brachte 50 Kilometer von Dresden ein verheerendes Unwetter mit wolkenbruchartigen Gewittergüssen mindestens 145 Menschen im Erzgebirge den Tod. Wie die damalige "Schaumburg-Lippische Landes Zeitung" am 11. Juli 1927 berichtete, riss die Gottleuba, die nach etwa 15 Kilometern südlich von Dresden in die Elbe mündet, in der Nacht zum 10. Juli 113 Männer, Frauen und Kinder ins Verderben.

In den Fluten der zu Tal stürzenden Müglitz kamen dem damaligen "amtlichen Bericht des sächsischen Innenministeriums" zufolge 32 Anwohner um. Nach den Berichten begann die Katastrophe, als am 9. Juli abends plötzlich heftige Sommergewitter einsetzten. Die Behörden berichteten von nie zuvor erlebten Niederschlagsmengen. Innerhalb weniger Stunden verwandelten sich die Bäche in reißende Ströme. Gegen Mitternacht brachen mit ungeheurer Wucht bis zu drei Meter hohe Flutwellen zu Tal. Bevor die Behörden in den damaligen Amtshauptmannschaften Pirna und Dippoldiswalde Alarm schlagen konnten, waren die Strom- und Telegrafenleitungen zerstört. Die meisten Opfer wurden im Schlaf überrascht.

Am schlimmsten betroffen war nach Angaben der Zeitung, die im Niedersächsischen Staatsarchiv in Bückeberg archiviert ist, das Gottleubatal. In Berggießhübel, Glashütte und dem heutigen Bad Gottleuba wurden ganze Häuserzeilen zerstört. Auch zahlreiche Bauernhöfe, Mühlen und Brücken gingen unter. In Pirna, wo die Gottleuba in die Elbe mündet, setzte die Flutwelle große Siedlungsgebiete unter Wasser. Die Gleise der Eisenbahnstrecke Pirna - Gottleuba hingen an vielen Stellen "in der Luft". Auf der Elbe in Richtung Dresden schwammen Bäume, Balken, Hausrat und totes Vieh.

Drama im Bahnhof von Glashütte
Augenzeugen berichteten von erschütternden Szenen. Ein im Bahnhof Glashütte haltender Zug wurde komplett über 300 Meter weit mitgerissen. Wie durch ein Wunder kamen die Reisenden mit dem Schrecken davon. Sieben Bewohner eines Hauses in Lauenstein, die sich in letzter Sekunde auf das Dach geflüchtet hatten, stürzten mit den Trümmern des einstürzenden Gebäudes in die Fluten und starben. In Rottwerndorf, einem Vorort von Pirna, wurden mehrere Menschen durch die zu Tal stürzenden Baumstämme erschlagen.

Die Folgen der Hochwasserkatastrophe bezifferte die "Schaumburg- Lippische Landes Zeitung" am 13. Juli 1927 auf etwa 70 Millionen Reichsmark. Allein die Reichsbahndirektion Dresden ging den Berichten zufolge von 10 Millionen Reichsmark aus. 700 Soldaten der gesamten Dresdner Garnison und des Magdeburger Pionierbataillons waren im Einsatz. Reichspräsident Paul von Hindenburg erreichten Beleidtelegramme aus der ganzen Welt. Die Reichsregierung bewilligte zwei Millionen Reichsmark Soforthilfe.

Am 14. Juli 1927 berichtet die Zeitung von einer Reihe weiterer Unwetter, die deutsche und europäische Landschaften verwüstet hatten. Schon damals stand Mitte Juli auf dem Flughafen Berlin-Tempelhof und in mehreren Berliner U-Bahn-Schächten das Wasser mehr als einen halben Meter hoch. In Paris und Moskau waren es 20 Zentimeter mehr. Überall in Deutschland verschwanden ganze Landstriche nach heftigen Regenfällen in den Fluten. Über 50 Menschen wurden von Blitzen erschlagen. Es habe sich in Deutschland ein regelrechter "Unwetterschrecken gebildet, der bei jedem drohenden Himmel in die Gemüter der Menschen fährt und sie aus Angst vor Wirbelsturm und Wolkenbruch eiligst fliehen lässt", meldete der "Presse-Depeschendienst". "Warum neigt unser ruhiger und gewissermaßen eintöniger Himmel in den letzten Jahren zu so katastrophalen Seitensprüngen?", fragte das Blatt.

Versetzen Radiowellen den Himmel in Aufruhr?
Schuld an der derzeitigen Katastrophenhäufung seien "anormale", in den letzten Jahrzehnten immer öfter aus Süd- und Südosteuropa nach Deutschland vordringende Niederdruckluftmassen, erfuhren die Leser am 19. Juli 1927 in einer Beilage. Unter dem Titel "Die Ursache der Naturkatastrophen - Allgemeines über direkte und indirekte Zusammenhänge" beschrieb der Münsteraner Wissenschaftler Walter Lammert die Auswirkungen des Zusammentreffens feucht-warmer Luft mit kühleren Kontinentalströmungen.

Ausführlich diskutiert wurde auch die Frage, warum sich die "Depressionen" in auffälliger Weise häuften. Für die meisten Wissenschaftler stand damals bereits fest, dass man es mit einer langfristigen, Besorgnis erregenden Klimaveränderung zu tun habe. Nur über die Ursache gab es andere Vorstellungen als heute. Es sei "das neue Radiozeitalter, das mit seinen verschiedenen Wellenlängen den Wolkenhimmel in Aufruhr versetze", hieß es. Die meisten Fachleute hingegen favorisierten eine These, die bis heute - wenn auch selten - zu hören ist: Die "Klimaseitensprünge" hätten mit den zunehmenden Aktivitäten und Explosionen auf der Sonnenoberfläche und der dadurch bedingten Erderwärmung zu tun, heißt es 1927. (dpa)